Ein leichter Windstoß, eher ein Hauch, fegte die noch leeren Notenblätter zu Boden. Jacques seufzte und bückte sich. Er hob die unbeschriebenen Seiten hoch, legte sie sorgfältig wieder auf den kleinen Holztisch vor dem geöffneten Fenster, nahm einen kräftigen Schluck aus dem halbleeren Rotweinglas und ließ sich schwerfällig wieder auf dem Schemel nieder, der ihm als Schreibtischstuhl diente.
Eine große weiße Wolke schob sich vor die grelle Mittagssonne, und Jacques genoss den kurzen Augenblick, in dem das Licht nur gedämpft in sein Zimmerchen drang, bevor ihm die Sonne wieder in die Augen stach. Sein Kopf war leer. Er blickte auf die verwaisten Linien vor ihm, die ihn vorwurfsvoll anzustarren schienen. Dann nahm er seine Gitarre und spielte einige Töne, aber selbst die Melodien, die gewöhnlich von selbst zu ihm kamen, klangen heute irgendwie nichtssagend - wenn überhaupt, waren sie eher schwermütig als leicht und beschwingt. Jacques seufzte, malte einen wohlgeformten G-Schlüssel auf das Blatt, nur um dieses gleich wieder wütend zusammenzuknüllen und achtlos neben sich zu werfen. Seine Augen schauten auf den Papierberg zu seinen Füßen mit all den anderen vergeblichen Versuchen der letzten Nacht und dieses Tages. Jacques Blick wanderte wieder zum Fenster. Der hölzerne Fensterladen klapperte im Wind. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er drehte sich um. Der Raum hinter ihm war dämmrig und fast leer bis auf die kleine Kommode mit dem Spiegel und das Bett in der hinteren Ecke. Auf dem schmalen Bett lag seine Tochter, dünn und zart, fast durchsichtig auf ihrem Kissen. Sie war in einen unruhigen Schlaf gefallen. Ihre Wangen waren blass und sie stöhnte leise. Sicher hatte sie Schmerzen und träumte schlecht. In den letzten drei Tagen war sie immer schwächer und irgendwie kleiner geworden. Ihr Zustand hatte sich verschlechtert und Jacques bangte verzweifelt um ihr Leben.
Er brauchte das Geld, dass er mit seinen kleinen fröhlichen Musikstücken verdiente, nötiger denn je. Die Medizin für sie war teuer und er konnte es sich nicht leisten, den Doktor in ihre karge Unterkunft zu bitten, um nach ihr zu sehen. Gerade wollte er sich wieder seiner Arbeit zuwenden, da fiel sein Blick auf die dunkelrote Rose auf dem Tisch. Frisch sah sie aus, ihre Blätter schienen nicht welken zu wollen, obwohl es schon eine Woche her war, dass die alte Frau auf dem Markt die Rose seinem Kind geschenkt hatte. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie mit ihm vor die Tür getreten und ein paar Schritte gegangen war, bevor sie sich erschöpft ins Bett gelegt und seitdem nicht mehr aufgestanden war. Wie ein Hoffnungsschimmer leuchtete das Rot der Rose vor dem blauen Himmel.
Da ertönte helles Kinderlachen von draußen herein. Die ausgelassenen Stimmen zauberten ein Lächeln auf Jacques müdes Gesicht. Wie sehnte er sich nach den glücklichen Tagen, als das Lachen seines eignen Kindes seine Tage erfüllte.
Jaques spürte in sich den unwiderstehlichen Drang, vor die Tür zu treten und sich unter die Menschen zu mischen, die auf der Promenade flanierten. Er wollte sich treiben lassen, wollte am Hafen die salzige Luft atmen und den Fischerbooten hinterherblicken, die lustig auf den Wellen tanzten. Aber konnte er seine Tochter allein lassen? Besorgt blickte er auf sein krankes Kind. Er trat an ihr Bett und tupfte ihr vorsichtig den Schweiß von der blassen Stirn. Für einen Moment schien es ihm, als lächele sie ein wenig.
Und wenn er nun doch ginge? Nur für einen Augenblick das Zimmer, die Krankheit und die leeren Notenblätter zurückließe? Wie im Traum nahm Jacques seinen Strohhut und die Gitarre und schlich auf Zehenspitzen, um sein krankes Mädchen nicht zu wecken, aus dem Raum. Er schloss zaghaft die Tür, die sich mit einem leisen Klicken verriegelte und trat in das helle Sonnenlicht.
Plötzlich war er umringt von Stimmen und Lachen, vom Kiosk an der Ecke riefen ihm Männerstimmen ein einladendes „Salut“ entgegen und boten ihm einen Pastis an, doch ihn zog es weiter Richtung Meer. Möwen kreischten über seinem Kopf, ein Ausflugsdampfer grüßte tutend seine Gäste. Der Wind trug das sanfte Rauschen der Wellen an sein Ohr. Er folgte den Tönen bis zu dem kleinen Stück Strand, auf dem einige Fischerboote lagen und Netze zum Trocknen aufgespannt waren. Die Luft war trocken, es roch nach Salz, Teer und Fisch. Jacques zog seine Schuhe aus und ließ seine Füße von den heranrollenden Wellen umspülen. Das Wasser war kühl und sanft.
Er setzte sich nah der Mole auf einen Stein, nahm seine Gitarre und begann zu spielen erst zaghaft und leise, dann immer schneller und lauter. Er spielte, was ihm gerade in den Sinn kam: Von dem rauschendem Meer erzählte seine Melodie, von den singenden Vögeln, den lachenden Kindern und dem Pfeifen des Windes. Die Zeit schien stillzustehen.
Er musste schon eine ganze Weile gespielt haben, da spürte er einen Atem in seinem Nacken. Er wandte sich um, sah aber nur noch den Rücken einer alten Frau, die langsam durch den Sand davon ging. In seinem Strohhut lagen zwei Geldscheine.
Jacques wollte rufen, doch über seine Lippen, kam nur ein gestammeltes „Merci“, das ganz tief aus seinem Inneren zu kommen schien. Rasch zählte er das Geld, sein Herz machte einen Sprung - es reichte! Er flog mehr als dass er rannte zur Apotheke an der Hauptstraße. Mit der rettenden Medizin in der Tasche eilte er zurück, vorbei am Kiosk und hinein in das kleine graue Haus, in dem das karge Zimmer ihnen als Zuhause diente.
Sein Atem ging keuchend und er rang nach Luft. Dann trat er in den Raum. Irgendetwas hatte sich verändert. Verwirrt blickte um sich. Es war dieselbe Stube, die er erst vor kurzer Zeit verlassen hatte und doch wirkte sie lebendiger und frischer. Auf dem Tisch lag noch immer die Zeitung vom Vortag und die unbeschriebenen Notenblätter, sein leeres Weinglas war dort, an dessen Grund dunkelrot fast schwarz ein kleiner Rest Rotwein getrocknet war und daneben in der Vase stand immer noch die Rose. Doch nun war sie strahlend weiß und leuchtend! Wie konnte das sein? Langsam wandte er sich seiner Tochter zu. Ihre Wangen wirkten leicht gerötet und als er an ihr Bett trat und ihr sanft über die Stirn streichelte bemerkte er, dass diese nicht mehr schweißnass war und fiebrig glühte, sondern sich zart und kühl anfühlte. Sie öffnete langsam die schweren Lider, blickte ihm in die Augen und lächelte liebevoll.
Er schlang seine Arme um sie, dann nahm er sie auf den Rücken. Sie war federleicht. Und er trug sie aus dem Raum durch die Tür und in die Freiheit. Ohne es zu bemerken, summte er dabei das Lied, das am Strand zu ihm gekommen war.
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