Es ist Sonntag. Es ist sogar ein wunderschöner Herbstsonntag. Die Blätter der Bäume sind mittlerweile Goldgelb, Rotbraun oder Gelbbraun gesprenkelt. Ein leiser Windhauch weht durchs Geäst. Ein kleines Mädchen in hellgrünen Gummistiefeln und einem fliederfarbendem Regencape stapfte an der Hand des Vaters durch das herunter gefallene Herbstlaub. Nahmila sitzt am Fenster ihres Zimmers, schaut mit ihren tiefbraunen Augen den Vögeln nach und beneidet die Menschen die dort unten im herbstlich gefärbten Park herumlaufen. Nahmila seufzt: Wenn ich doch nur laufen könnte.
Geboren wurde sie in einem kleinen Dorf in Afrika. Als sie sieben Jahre alt war, war sie mit ihrer Mutter nach Deutschland gekommen und seitdem lebt Nahmila in München. In diesem Moment fährt eine Frau auf einem himmelblauen Fahrrad vorbei. „Wenn ich doch nur Fahrrad fahren könnte“, seufzt Nahmila. Seit sie vor fünf Jahren einen schweren Verkehrsunfall hatte, ist sie querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Seit diesem Unfall ist sie stiller geworden. Plötzlich ruft ihre Mutter von unten: „Nahmila, Schatz, mach doch bitte das Licht aus, es ist schon spät.“ „Ja Mama, mach ich“, ruft sie zurück. Ob Nahmila Hilfe beim ins Bett gehen braucht fragt ihre Mutter schon gar nicht mehr. Nahmila steckt schon in ihrem Schlafanzug. Sie rollt zu ihrem Bett, an dem extra ein paar Griffe als Hilfe befestigt sind. Schließlich liegt sie im Bett, und schläft auch kurz danach ein. Sie träumte, dass sie endlich von ihrem Rollstuhl loskommt und wieder laufen kann. Sie springt fröhlich über eine saftig grüne Wiese, auf der Blumen in den schillerndsten Farben und unterschiedlichsten Gerüchen wachsen. Diesen Traum träumt sie jetzt bestimmt schon zum hundertsten Mal. Am Ende des Traumes gelangt sie immer zu demselben silbernen Schloss, vor dem prächtige braune Ochsen weiden. Doch immer, wenn sie kurz davor ist, die silberne Pforte ins Innere des Schlosses zu durchschreiten, weckt sie der schrille durchdringende Ton ihres kleinen roten Weckers. Aber heute ist Sonntag, und morgen schulfrei, denn die Lehrer haben eine wichtige Konferenz. Also hat Nahmila ihren Wecker ausgestellt. Heute Nacht hat sie es tatsächlich geschafft, im Traum durch die geheimnisvolle Pforte zu gelangen. Dahinter liegt ein silberner Saal, in dessen Mitte ein kleines Mädchen in blauen und gelben Gewändern steht. Ihr Gesicht ist in ihren zierlichen Händen verborgen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sie todtraurig ist. In diesem Moment wird Nahmila von dem brodelnden Geräusch der Kaffeemaschine aus ihrem merkwürdigen Traum gerissen. Sie schlägt die Augen auf. Tausende von Fragen schießen ihr durch den Kopf. Sie wirft einen schnellen Blick auf ihren Wecker: 10 Uhr 43. Da fällt ihr Blick auf ein kleines rotes Päckchen, das auf dem Fußende ihres Bettes ruht. Sie zieht ihre Decke soweit hoch, dass sie das Päckchen erreichen kann. Sie greift danach. Es fühlt sich glatt an und riecht… riecht in etwa so wie die Blumenwiese, auf der sie in ihren Träumen immer gewesen ist! Neugierig reißt sie das Papier auf. Etwas Seidiges, Silbernes gleitet auf ihre Bettdecke. Nahmila nimmt das silberne Etwas in die Hand. Sie lässt es durch ihre Finger gleiten. Auf einmal spürt sie den unwiderstehlichen Drang das - was auch immer es ist - über den Kopf zu ziehen. Sie streifte es über. Es beginnt merkwürdig in ihren Fingerspitzen zu kribbeln. Dann spürt sie das Kribbeln auch in den Unterarmen. Und dann im ganzen Körper. Sie will den silbernen Stoff vom Kopf reißen, denn das lustige Kribbeln hat sich in ein unangenehmes Stechen verwandelt. Plötzlich hört es auf. Sie zieht den seltsamen Stoff langsam vom Kopf und betrachtet ihn gedankenverloren. Dann steckt sie das silberne Kleidungstück in die Tasche, die an der Rückseite ihres Rollstuhles befestigt ist. Doch als sie aus dem Zimmer rollen will, wird ihre gesamte Aufmerksamkeit von einem Brief angezogen, der vor ihrer Zimmertür liegt, und wohl unter der Tür durchgeschoben wurde. Neugierig reißt sie den Umschlag auf und liest den Brief der sich im Inneren befindet.
Liebe Nahmila,
Es bietet sich dir heute die einmalige Gelegenheit den Magischen Mantel zu benutzten, den meine alten Hände selbst gefertigt haben. Besagter Mantel macht dich für andere Menschen unsichtbar, nur freundliche Tiere und sehr, sehr wenige Menschen, die dich wirklich lieben, die können dich sehen. Außerdem kann der Mantel dich wie im Gedankenflug überallhin, an weit entfernte Orte bringen, in andere Zeiten und vielleicht sogar an Orte, die es gar nicht gibt. Er verleiht seinem Träger, also dir, magische Fähigkeiten. Aber Achtung! Die Magie des Mantels währt nur einen Tag und eine Nacht. Viel Spaß!
Der Mantelmacher
Nahmila kann es kaum fassen. Langsam rollt sie zur Wohnungstür und dann in den Flur. Entschlossen fasst sie sich ein Herz und schließt die Augen. Sie denkt ganz fest an die wunderschöne Wiese. Als sie die Augen wieder öffnet steht sie noch immer im Flur. Enttäuscht rollt sie zum Lift und drückt den obersten Knopf, denn sie wohnt ganz oben im Haus. Nach kurzer Zeit kommt der Lift, die Türen öffnen sich und Nahmila rollt hinein. Unten angekommen, rollt sie nach draußen und vor Staunen klappt ihr Mund auf - sie befindet sich auf der herrlich duftenden Wiese aus ihrem Traum. Sie wirft einen kurzen Blick zurück. Ihre Augen weiten sich. Das Haus, in dem sie lebt, ist verschwunden. Einfach weg! Nicht mal ein Staubkorn ist übriggeblieben. Nahmila kann nicht genau sagen wie lange sie einfach nur dastand und den üppigen Duft der Blumen einsog. Schließlich schließt sie die Augen. Als sie sie wieder öffnet, ist die Wiese verschwunden. Jetzt steht sie vor dem Silberschloss, von dem sie geträumt hat, mit den prächtigen braunen Ochsen. Langsam rollt sie auf die Silberpforte zu. Sie rollt hindurch und ist wieder im Silbersaal. Doch sie ist allein. Das traurige kleine Mädchen ist nicht da. Nahmila kann es immer noch nicht fassen. Jetzt, und nur jetzt hat sie die einmalige Chance die Räume des Schlosses zu erkunden. Allerdings nur im Erdgeschoß, den hier gibt es keinen Lift. Sie braucht Stunden, um alle Räume zu erforschen und dann rollt sie durch eine Tür und steht wieder im Garten bei den Ochsen. Moment mal, denkt sie, stand in dem Brief nicht etwas von Zauberkräften? In diesem Augenblick fliegt eine Elster über ihren Kopf hinweg und lässt etwas in ihren Schoß fallen. Sie nimmt es in die Hand. Es fühlt sich angenehm kühl an. Es ist ein silberner Ring, in dessen Mitte ein kleiner grüner Edelstein eingelassen ist, der von innen heraus zu leuchten scheint. Sie steckt ihn auf den kleinen Finger, auf den er perfekt passt. In der Ferne erblickt Nahmila einen Wald, aus dem seltsame fremde Klänge kommen. Sie schließt die Augen, und wünscht sich ganz fest in diesem Wald zu sein. Als sie sie wieder öffnet, befindet sie sich im Wald. Auf einem verwitterten Holzschild steht: WALD DER TIERE. Von überall her hört Nahmila seltsame Tierschreie. Ein kleines Eichhörnchen läuft vor ihrem Rollstuhl her, dreht sich kurz zu Nahmila um und läuft dann weiter. Plötzlich hört sie ein Knurren hinter sich. Langsam dreht sie sich um. Ein riesiger Braunbär. Nahmila sitzt vollkommen geschockt in ihrem Rollstuhl. Doch der Bär geht einfach an ihr vorbei. Das muss der Mantel sein der mich unsichtbar macht, denkt Nahmila. Während der Bär im Unterholz verschwindet, drückt er einen wuchtigen Ast zur Seite, der wie ein Pfeil zurückschnellt und Nahmila aus dem Rollstuhl fegt. Sie landet vier Meter entfernt auf dem Waldboden. Dort liegt sie bis sie wieder zur Besinnung kommt. Doch allein kann sie nicht aufstehen. Alle Hoffnung scheint verloren zu sein, sie würde da sicherlich sehr lange liegen bleiben, wenn da nicht der große silberne Storch gewesen wäre, der Nahmila an den Armen zurück in den Rollstuhl zieht. Er bleibt noch ein bisschen vor ihr stehen und schaut sie mit seinen silbernen Augen an. Dann fliegt er weg. Über Nahmila wird es dunkel. Sie ist unglaublich müde und sie schläft einfach ein. Am nächsten Morgen wird sie von Vogelgeschrei geweckt. Mit Schrecken bemerkt sie das das Kribbeln wieder da. Dann das Stechen. Dann verschwimmt der Wald vor ihren Augen und sie steht wieder im herbstlichen Park.
Als sie wieder in ihrem Zimmer ist und auf ihren Wecker schaut, bemerkt sie, dass nur wenige Minuten vergangen sind! Erst denkt sie, dass alles nur ein Traum war, doch dann entdeckt sie den silbernen Ring, der immer noch an ihrem kleinen Finger steckt.
Comments