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Writer's pictureBrigitte Leeser

Die Macht der Erinnerung – von Anna Stöcker

Jan ging die steile Straße hinauf. Das Haus seiner Eltern stand ganz am Ende der Sackgasse an einem Abhang. Dahinter erstreckten sich Weinberge bis zum Horizont. Jan liebte diese Gegend und besuchte seine Eltern auch deshalb sehr gern. Das große alte Haus sah einladend aus und die Blüten der großen Apfelbäume im Garten verströmten einen wunderbaren Duft. Jan öffnete das Tor und lief über den Kiesweg zur Haustür. Er klingelte. „Jan!“, rief seine Mutter erfreut. „Da bist du ja endlich!“ Sie schloss ihn überschwänglich in die Arme. „Der Zug hatte Verspätung“, versuchte Jan das verpasste Kaffeetrinken zu rechtfertigen. „Halb so wild“, rief seine Mutter, „Wir haben dir natürlich ein Stück Käsekuchen übriggelassen.“ „Das brauche ich jetzt“, grinste Jan, „ Ich habe heute schließlich erst ein kleines Sandwich gegessen, das auf keinen Fall ausreicht.“ Seine Mutter ließ ihn herein und servierte ihm ein gigantisches Stück Käsekuchen und eine große Tasse Kaffee. Die beiden unterhielten sich ein wenig, dann kam Jans Vater vom Einkaufen zurück und Jan bezog sein Zimmer. Er kam gern hierher zurück. Das große Fenster war in Richtung der Weinberge ausgerichtet, direkt darunter stand das Bett. Es war kein großes Zimmer. Nur ein kleiner Schreibtisch, eine schöne altmodische Kommode und das Bett fanden Platz darin. Doch Jan liebte es über alles. Früher hatte er oft stundenlang am Fenster gesessen und einfach nur hinausgeschaut. Er hatte den Zug beobachtet, wie er sich durchs Tal schlängelte, er hatte zum Fluss hinübergeschaut, wo sich im Sommer viele Ruderboote versammelten. Doch heute hatte er dazu nicht allzu viel Zeit. Er musste noch einige E-Mails beantworten. Also nahm er seinen Laptop aus dem Rucksack und legte ihn auf den Tisch. Gerade als er sich setzen wollte, glaubte er auf der Rückseite des Papierkorbs etwas aufblitzen zu sehen. Neugierig bückte er sich unter den Tisch, drehte den Papierkorb zu sich herum und entdeckte einen kleinen Magneten in Form eines Delfins.  Er haftete ganz unten an einer Niete. Der kleine Delfin lächelte fröhlich. Er wies hie und da winzige Rostflecken auf und seine Schwanzflosse war an manchen Stellen schon ziemlich zerkratzt. Jan löste ihn vorsichtig vom Papierkorb. Das glänzende Ding kam ihm seltsam bekannt vor. Er überlegte fieberhaft und plötzlich fiel es ihm ein. Sein älterer Bruder hatte ihm den Delfin von seinem Schüleraustausch in Florida mitgebracht. Es war schon einige Jahre her, damals war Jan noch in die Schule gegangen. Sein Bruder war damals noch da gewesen und sie noch vereint. Jan versuchte, die schmerzlichen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, doch es gelang ihm nicht. Sein Bruder Kai hatte der Familie den Rücken gekehrt. Er hatte sie alle verlassen und hatte jeden Kontakt abgebrochen. Unwillkürlich tauchten in Jan die Erinnerungen immer deutlicher auf, bis er den verhängnisvollen Tag glasklar vor sich sah.


Es war ein sonniger Nachmittag gewesen. Jan und seine Eltern saßen an dem kleinen Gartentisch unter den Apfelbäumen und unterhielten sich über die nahenden Sommerferien. Das Gartentor öffnete sich quietschend und Kai kam herein. Er sah seltsam bestürzt aus und Jan fragte sofort nach dem Grund. „Sie haben mich rausgeschmissen“, brachte Kai erstickt hervor, „sie haben mir einfach gekündigt!“

Nach dem Studium hatte Jans Bruder in einem kleinen Geschäft angefangen zu arbeiten. Ihnen war allen klar gewesen, dass es sich nur um eine Übergangslösung handeln würde, aber dass Kai schon nach zwei Wochen seinen Job verlor, verwunderte sie sehr. „Wie konnte das passieren?“, fragte seine Mutter schließlich. „Sie haben nicht mehr genug Geld, um so viele Arbeitskräfte zu bezahlen“, antwortete Kai. Es nahm ihn sichtlich mit. „Ach Kai“, sagte sein Vater, „es ist nicht das Ende der Welt. Wir werden dir eine neue Arbeit suchen.“ „Es ist eure Schuld!“, rief Kai. „Wie konnte ich mich auf euren Rat verlassen? Es war doch schon vor Monaten klar, dass der Laden bald kein Geld mehr abwirft!“ „Kai“, versuchte ihn seine Mutter zu beschwichtigen, „wenn du dir schon vor Monaten sicher warst, dass es nicht gutgehen wird, wieso hast du unseren Rat dann befolgt?“ „Weil ich euch vertraut habe!“, schrie Kai, „aber euch kann man anscheinend nicht vertrauen. Ich werde meine Entscheidungen ab jetzt selbst treffen! Ohne eure Ratschläge!“ „Kai!“, sein Vater wurde ärgerlich. „Es war dein erster Job, ich weiß. Aber uns zu unterstellen, wir wären schuld an der Kündigung, das ist nicht richtig. Wir haben unser Bestes gegeben, genau wie du.“ Kai stürmte ins Haus. Jan hatte die ganze Situation schweigend beobachtet. Jetzt fragte er: „Was macht er jetzt wohl?“ „Ich bin sicher, dass er sich beruhigt und gleich wieder in den Garten kommt, um sich zu entschuldigen“,  antwortete seine Mutter zuversichtlich, „er wird bestimmt selbst feststellen, dass seine Reaktion mehr als unpassend war.“

Leider lag sie falsch. Kai kam tatsächlich nach einer Weile wieder herunter in den Garten. Allerdings trug er einen großen Rucksack auf dem Rücken und zog einen Rollkoffer hinter sich her. „Ich brauche euch und eure schlechten Ratschläge nicht mehr“, sagte er, „ich werde hinaus in die Welt gehen, ganz weit weg von euch!“


Jan erwachte aus seinen Erinnerungen wie aus einem Traum. Er hatte schon lange nicht mehr an seinen Bruder gedacht und jetzt spürte er irgendwo in der Brust einen Stich. Er vermisste Kai, selbst wenn er sich das oft nicht eingestehen wollte. Gedankenverloren sah er aus dem Fenster. Würde sein Bruder irgendwann zurückkommen? Hinter den Weinbergen ging bereits die Sonne unter. Unten im Erdgeschoss hörte er eine Tür zuschlagen. Seine Eltern wollten fernsehen. Jan nahm den Delfin vom Schreibtisch und steckte ihn in die Hosentasche. So, dachte er, war ihm sein Bruder vielleicht ein kleines Stück näher. Dann machte er sich endlich an die E-Mails.

Als er gerade die letzte Nachricht abgeschickt hatte, hörte er die Türklingel. Verwundert machte er sich auf den Weg nach unten. Wer konnte das sein? Er öffnete die Tür. In der Dunkelheit konnte man die Gestalt, die draußen stand nur schlecht erkennen, doch diese Silhouette war unverwechselbar. „Kai?“, fragte Jan. „Bist du es?“



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hanna
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Der Rückblick in die Vergangenheit und der Wechsel zwischen den Zeiten allgemein hat mir richtig gut gefallen. Das Ende kam ebenfalls sehr überraschend.

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