Luna schlug die Augen auf. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und gähnte. Ihr langes, schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie schloss die Augen und versuchte sich an ihren Traum zu erinnern. Er hatte von einer Wölfin gehandelt. Luna konnte sich genau daran erinnern, wie ihr weißes Fell im Regen geglitzert hatte. Das Mädchen streckte sich, stand, rutschte prompt auf etwas Weichem aus und landete wieder auf ihrem Bett. Grummelnd schaute sie, was ihren Fall verursacht hatte. Auf dem Boden lag ein Päckchen in schlichtes, braunes Packpapier eingepackt und mit einer Schnur zugebunden. Luna runzelte die Stirn. Sie war sich ziemlich sicher, dass niemand ihr etwas schicken würde. Sie hatte nicht viele Freunde, in der Schule saß sie meist allein in einer Ecke und zeichnete. Als Familie hatte sie nur ihre Eltern. Vorsichtig nahm Luna das Paket in die Hände. Es war leicht. Behutsam löste sie die Schleife. Als sie das Papier abgewickelt hatte, schlugen ihr seltsame Gerüche entgegen - Gras nach dem Regen, Tierfelle, nasses Holz, aber auch der Duft von altem Pergament. Luna liebte diese Gerüche. Auch etwas aus Stoff kam zum Vorschein. Es war ein dunkles, fast schwarzes Material, dass durch ihre Finger zu fließen schien. Blaue Sterne funkelten und schienen umher zu tanzen. Als sie aufstand und den Stoff vor sich hielt, sah sie, dass es sich um einen Umhang handelte. Eine Karte fiel aus den Falten. Luna bückte sich, um sie aufzuheben. In geschwungener, schwarzer Schrift stand darauf geschrieben:
An den Empfänger dieses Päckchens
Dies ist ein Geschenk des Waldes und der Magie - der Umhang Seiche. Er ist gewebt, aus dem Haar eines Einhorns. Ziehst du ihn über, so können dich nur Tiere sehen und jene, die dich aufrichtig lieben. Der Umhang bringt dich an jeden beliebigen Ort, in jeder beliebigen Zeit. Und er verleiht dir magische Fähigkeiten, die du nicht verschwenden solltest.
Luna war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Das war doch ziemlich unglaubwürdig. Andererseits hatte Luna schon immer gern an Legenden und Zauberei geglaubt, also entschloss sie sich, es einfach auszuprobieren. Sie zog sich schnell an und trat auf den Flur. Leise ging sie zum Zimmer ihrer Eltern und öffnete die Tür. Da beide noch schliefen schrieb Luna ihnen eine Nachricht, dass sie spazieren gehe und sie sich keine Sorgen machen sollten. Sie warf sich den Umhang über, und lief nach draußen.
Tatsächlich schien niemand Luna zu sehen. Einmal rannte sie aus Versehen in einen Mann, der sich nur verwirrt umschaute. Beim Gedanken an sein Gesicht musste sie kichern. Es fühlte sich an, als würde sie durch einen Film laufen.
Als sie endlich am Wald angekommen war, atmete sie tief ein. Sie liebte die frische Luft hier. Luna betrat den Wald und während des Gehens grübelte sie darüber nach, wer ihr den Umhang wohl geschickt haben könnte. Ganz in Gedanken versunken stieß sie gegen einen Baum. „Autsch!“, murmelte sie, als ihr harte Eicheln auf den Kopf prasselten. „He, pass doch auf!“, rief eine piepsige Stimme. Verwundert blickte Luna nach oben. Ein Eichhörnchen saß auf einem Zweig ungefähr zwei Meter über ihr und reckte wütend die Pfote. „Du kannst doch nicht einfach so herumlaufen und gegen Bäume rennen! Da fallen doch meine ganzen schönen Eicheln herunter!“
„Du kannst sprechen?“, fragte Luna.
„Ja, ich kann sprechen! Du trägst den Umhang Seiche und der übersetzt jede Sprache!“, schrie das Eichhörnchen zurück. Luna staunte immer mehr über dieses Geschenk. Sie hatte schon immer mit Tieren sprechen wollen. „Wie heißt du?“, fragte sie. Das Eichhörnchen stöhnte. „Aaaach, ihr Menschen mit euren Namen. Immer soll alles irgendwie heißen.“
„Also hast du keinen Namen?“
„Natürlich habe ich einen Namen!“
Luna zog die Brauen hoch. „Und der wäre?“
„Hazel“, nuschelte das Tier, gerade laut genug, dass Luna es hören konnte. Sie lächelte. „Hallo Hazel. Ich bin Luna.“
Hazel sah sie kurz an, dann schien der kleinen Eichhörnchen Dame eine Idee zu kommen. „Hör mal, da hinter den Büschen ist eine Lichtung. Eine Freundin von mir könnte deine Hilfe brauchen. Könntest du eben mitkommen?“, bat sie. Luna nickte und folgte ihrer neuen Freundin.
Als die beiden auf der Lichtung ankamen, standen viele Tiere um einen Baum herum und diskutierten. „Ich kann versuchen es aufzubeißen!“, sagte ein Wildschwein.
„Und ihr dabei das Bein zerreißen? Niemals!“, antwortete ein Hirsch.
Ein Rotkehlchen schlug vor: „Wir könnten es aufhebeln!“
„Bitte? Dabei verletzen wir uns bloß!“, entgegnete ein Hase.
„SCHNAUZE HALTEN!“, schrie ein Fuchs. „Seht mal!“
Alle wurden leise und schauten zu Luna und Hazel. Das kleine Eichhörnchen marschierte auf die Gruppe zu und rief: „Platz da! Platz da! Geht mal zur Seite, Hilfe ist da!“
Verdutzt traten die Tiere beiseite und gaben den Blick auf eine Wölfin frei. Es war nicht irgendein Tier, es war die weiße Wölfin aus Lunas Traum. Sie lag auf der Seite und hatte die Augen geschlossen. Ihr Bein steckte in der Falle eines Wilderers. Luna lief auf sie zu und kniete neben ihr nieder. Die Wölfin öffnete ein Auge. Sie roch nach nassem Hund, aber Luna machte das nichts aus. Sie strich mit der Hand sanft über den Hals des Tieres. Das weiche Fell war warm und feucht von der regnerischen Nacht. Luna sah sich die Falle genauer an. Sie sah sehr stabil aus. Da fiel ihr ein, dass auf der Karte gestanden hatte, dass Seiche ihr magische Kräfte verlieh. Luna legte die Hand auf das kalte Metall, schloss die Augen und stellte sich vor, wie sich die Falle öffnete. Mit einem leisen `Klick` gab sie die Wölfin frei. Luna öffnete die Augen. Die Tiere um sie herum jubelten, während die Befreite langsam aufstand.
„Danke“, sagte sie zu Luna. „Ich sehe, der Umhang ist in guten Händen. Ich heiße Lupa. Unsere Namen sind gar nicht so verschieden.“ Lupa zwinkerte.
Die anderen Tiere murmelten zustimmend.
„Ich… äh… danke“, sagte Luna.
Lupa sah sie prüfend an. „Du hast noch viel vor dir, Luna. Ich werde dir helfen mit dem Umhang umzugehen. Aber jetzt, werde ich mich erst einmal ausruhen“, sagte sie und gähnte. „Auch du solltest jetzt nach Hause zurückkehren. Bis bald. Du bist jeder Zeit willkommen.“ Damit drehte die Wölfin sich um und verschwand im Unterholz. Auch die Anderen verließen die Lichtung, bis nur noch Luna und Hazel übrig waren. Hazel nickte: „Lupa ist hier die Chefin. Sie hat übrigens Recht, du solltest langsam nach Hause. Benutze den Umhang! Du musst dir nur vorstellen, wo du hinwillst. Komm bald wieder, ja? Tschüssi!“ Schon war die kleine Hörnchen Dame im Wald verschwunden und ließ eine sprachlose Luna zurück. Nur wenige Sekunden später schloss Luna erneut die Augen. Sie stellte sich ganz fest die Umgebung ihrer Haustür vor. Luna spürte die Veränderung des Bodens, des Lichtes und der Luft. Als sie die Augen öffnete, stand sie tatsächlich vor ihrem Haus. Sie lächelte. Eines stand fest. Die nächsten Wochen würden sehr interessant werden.
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